Gerade las ich einen Beitrag, der sich mit dem Thema "Kinder brauchen Märchen" befasst. Darin wurden auch gängige Kritikpunkte an Märchen aufgegriffen, unter anderem die Überlieferung von Rollenklischees. Das Vorurteil: Märchen seien frauenfeindlich, "da die Frauen in erster Linie passiv seien und erlöst werden müssten, und dass die Erlöserrolle immer männlichen Helden zukäme."*
Die Autorin des Beitrags verweist dagegen auf die weltweite Märchentradition inklusive der Sammlung der Gebrüder Grimm und die darin enthaltene Vielfalt der Erzählmotive inklusive facettenreicher Gestaltung der handelnden Geschlechter. Der springende Punkt ist also, wie sie resümiert: "Die Einseitigkeit in der Darstellung der Geschlechtsrollen liegt nicht in den Märchen, sondern in der Auswahl und Bearbeitung derselben sowie in der aus der Auswahl resultirenden Unkenntnis der Märchen, die andere Geschlechtsrollen aufweisen."*
Die Argumentation ist schlüssig: Das Werkzeug macht nur das, was die Hand will, die es führt. Was also passiert hier? Wer möchte Tradiertes, jedoch Überholtes weiter überliefern? Welche Vorbilder möchten wir stattdessen erleben und erzählt bekommen?
Als Erzählerin habe ich eine Verantwortung bei der Auswahl und der Bearbeitung der Geschichten. Ich selbst erzähle gern von den aktiven Heldinnen, die zielstrebig, mutig und selbstbewusst ihren Weg gehen, das Problem lösen und gegebenfalls auch noch einen Prinzen retten. Denn das sind für mich attraktive Vorbilder, interessante Identifikationsfiguren und potentielle Schablonen für meine Lebenswelt.
Ergo: Welche Geschichten erzählen, welche Vorbilder wünschen wir uns, welche Welt beabsichtigen wir?
Der sehr lesenswerte Beitrag "Kinder brauchen Märchen" von Sabine Lutkat erschien in Buch "Vom Geben und Vergeben im Alter/ Kinder brauchen Märchen" aus der Schriftenreihe der Europäischen Märchengesellschaft und kann z.B. HIER bei eben dieser bezogen werden.
* S. 195