Ein neues Jahr hat angefangen. Neue Jahreszahl, neue Herausforderungen, neue Ideen - und doch bleibt vieles beim Alten und nur oberflächlich noch ein wenig Glitzerstaub des Neuen. Bald finden wir uns wieder im alten Trott. Alte Gedanken, alte Gewohnheiten, alte Sorgen.
Zum japanischen Neujahr, das seit der Umstellung in den 1870er Jahren auch am 1. Januar gefeiert wird, gibt es eine Geschichte, die genauso gut hier bei uns spielen könnte. In Japan ist das Neujahrsfest sehr wichtig, und es gibt traditionelle Speisen und Rituale, um es zu feiern. Die Geschichte heißt "Die sechs Jisos und die Strohhüte" und unten kann man sie nachlesen bzw. den Link zu hekaya.de nutzen.
Jiso ist ein Schutzgott, ein Seelenbegleiter auf dem Weg in die Unterwelt. Als Statue wird Jiso häufig wie ein buddhistischer Mönch dargestellt, kahlköpfig und mit einem Pilgerstab. Die Geschichte erzählt von einem alten Mann und seiner Frau. Sie leben davon, dass der Alte Strohhüte flechtet und verkauft. Die beiden sind arm, wollen aber gern das Neujahrsfest mit den traditionellen Speisen (z.B. Mochi, Reiskuchen) feiern. Was dem Alten widerfährt, als er im verschneiten Trubel der Festtagsvorbereitungen in der Stadt seine Hüte anbietet, erinnert vielleicht ein wenig an Andersens "Mädchen mit den Schwefelhölzern": Niemand schenkt ihm Beachtung, alle sind mit Einkäufen beschäftigt. Ohne zu "spoilern" möchte ich aber andeuten, dass diese Geschichte glücklicherweise anders endet.
Was kann die Geschichte uns für ein neues Jahr geben? Vielleicht die Ermutigung, uns eingebunden, versorgt und behütet zu fühlen.
Mich inspiriert die Geschichte auch dazu, über Armut und Reichtum nachzudenken: Wo bin ich arm, wo spüre ich einen Mangel, wo fühle ich mich bedürftig, materiell, spirituell oder emotional? Wo
bin ich reich? Wo kann ich abgeben, wovon oder wem möchte ich geben, und was würde ich gerne empfangen?
Wen oder was möchte ich in diesem Jahr in mein Leben einladen und mache die Tür dafür weit auf?
Ein frohes Sinnen und Lesen!
Hier der Link zur Geschichte im Märchentexte-Portal hekaya.de
Die sechs Jisos und die Strohhüte
Es waren einmal ein alter Mann und seine alte Frau. Der Mann flocht Strohhüte um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, doch die beiden lebten im Elend und so kam es einmal, dass sie am letzten Tag des Jahres kein Geld mehr für die traditionellen Neujahrskuchen hatten. Der Alte beschloss also, in die Stadt zu gehen und dort einige Strohhüte zu verkaufen. Er nahm fünf davon und machte sich auf den Weg.
Die Stadt lag weit entfernt und auf dem Weg dorthin musste er eine Ebene durchwandern. Als er endlich in der Stadt angelangt war, fing er an zu rufen: »Strohhüte, wer will einen Strohhut kaufen? Die besten Strohhüte!«
Die Stadt war voller Menschen, die Festtagseinkäufe machten. Sie kauften Fisch, Sake und Neujahrskuchen und eilten nach Hause. Niemand aber wollte dem Alten einen Strohhut abkaufen. Für den Neujahrstag braucht man keine Strohhüte.
Als es anfing zu schneien, ging der alte Mann in der ganzen Stadt herum und bot seine Hüte an. Am Ende des Tage aber hatte er noch keinen einzigen Hut verkauft.
Als sich der Alte müde auf den Heimweg machte, sah er in der Ebene einige Jiso-Statuen unter dem Schnee stehen. Schneeflocken bedeckten die Köpfe der sechs steinernen Statuen. Der gutmütige Alte dachte sich: »Bei dieser Kälte werden die Jisos frieren.«
Er fegte den Schnee von ihren Köpfen und setzte ihnen die Hüte auf, die er nicht verkauft hatte. Dabei murmelte er: »Diese Hüte konnte ich nicht verkaufen, aber ich bitte Euch, sie anzunehmen.«
Weil er nur fünf Hüte mitgenommen hatte, es aber sechs Statuen waren, schenkte der Alte dem letzten Jiso seinen eigenen Hut. »Ich bitte um Entschuldigung, dass dieser Hut nicht neu ist.« sagte er und setzte seinen Weg fort.
Als der alte Mann endlich heimkam, war er mit Schnee bedeckt, denn er hatte ja seinen eigenen Hut weg gegeben. Als seine Frau das sah, fragte sie: »Was ist passiert?«
Der Alte antwortete: »Ich habe keinen einzigen Hut in der Stadt verkauft und auf dem Heimweg sah ich die Jisos in der Kälte stehen. Ihre Köpfe waren mit Schnee bedeckt, und so habe ich ihnen die Hüte gegeben. Weil die Hüte nicht reichten, habe ich ihnen auch meinen eigenen geschenkt.«
Seine Frau war sehr ergriffen. »Du hast gut getan.« sagte sie. »Obwohl wir arm sind, haben wir doch ein Haus. Deshalb müssen wir zufrieden sein.« So saßen beide beim Feuer. Weil sie wegen der nicht verkauften Hüte kein Geld hatten, fehlten auf ihrem Tisch die traditionellen Reiskuchen.
Als es dunkel geworden war, wurden die beiden von einem Geräusch geweckt. Erst kamen die Stimmen von weitem - dann aber hörte man einen Gesang immer näher kommen: »Die Jisos haben Strohhüte vom alten Mann bekommen, wo steht das Haus der Alten, wo ist das Haus der Alten?«
Der alte Mann und seine Frau wunderten sich sehr über den Gesang. Als sie danach laute Musik hörten, öffneten sie die Tür: vor der Tür lagen große Portionen Reis, Sake und Fisch, Neujahrsschmuck und warme Kimonos verschiedenster Art.
Die Alten schauten sich um, um zu sehen, wer ihnen diese Dinge auf die Türschwelle gelegt haben mochte, und sahen die sechs Jisos, die sich entfernten - jeder mit einem Strohhut auf seinem Kopf.
So hatten sich die Jisos mit einem Neujahrsgeschenk bei dem alten Mann für seine Wohltat bedankt.