Neulich kamen wir mit der Familie auf den Frosch, genauer gesagt, auf den Froschkönig, und meine großer Sohn zeichnete das "Bild mit der Beule".
Seine Perspektive wirft ein ganz neues Licht auf die Geschichte, und neue Fragen kommen auf: Wie ging es eigentlich dem Frosch, als die Kugel in den Brunnen fiel? War er traurig, war er fröhlich, dachte er gerade über etwas nach? Schwamm er, oder saß er auf dem Grund des Brunnens? Hätte ihn die Kugel tatsächlich treffen und verletzen können? Oder hat sie ihn gar getroffen? Durch all diese Überlegungen wird der Frosch plötzlich viel plastischer, lebendiger, kommt mir näher.
Das Ausgestalten der Märchenfiguren als differenzierte Charaktere, weg von der Flächenhaftigkeit und den Stereotypen, bringt manchmal großen Spaß, oft wunderbare Inspiration und immer eine größere Tiefe in die Geschichte. Es muss nicht gleich die detaillierte Ausformung der Protagonist*innen wie in manchen Märchenromanen sein, beispielsweise wie in der Reihe "Land of Stories" von Chris Colfer. Aber diese Art der Darstellung zeigt sehr deutlich, welchen Unterschied es macht, wenn die Figuren so dreidimensional sind. Trotz aller Festlegung, mit der wir als Konsument*innen dieser Geschichten dadurch lesen*leben müssen, ist es (wie ich finde) auch amüsant und wirft neues Licht auf "alte Bekannte": Ein selbstverliebtes Rotkäppchen. Eine Gretel, die unter der Dominanz ihres angeberischen Bruders Hänsels leidet und die die unauflösbäre Bindung an das Duo "Hänsel und Gretel" nicht mehr erträgt (vgl. Chris Colfer, Reihe "Land of Stories", Bd. 1-3).
Hier soll allerdings auch noch auf einen wesentlichen Unterschied zwischen schriftlichem Romanerzählen und mündlcher Erzähltradition und Erzählkunst verwiesen werden: Als Erzählerinnen und Erzähler formulieren wir nie alles aus, sondern Überlassen vieles dem Kopfkino, den inneren Bildern der Zuhörenden. Dennoch bleiben das Fragenstellen an die Geschichte und das Ausloten der Charaktere eine wichtige Aufgabe der Erzählerin. So kann ich die Geschehnisse reflektieren, mir über (mögliche) Motive der Handelnden klar werden, und diese mehr oder weniger deutlich in meine Präsentation beim Erzählen einfließen lassen.